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Aufgegebene Nervenklinik
Der Unterschied zwischen Genie und Wahnsinn definiert sich nicht selten allein im Erfolg. So ist die Bedeutung des Ausspruchs "Das ist doch Wahnsinn" schon höchst divergent und von dem Ereignis abhängig, auf das er sich bezieht. Wenn jemand also auch noch so verrückte Sachen macht, solange sich damit letztlich gesellschaftlich anerkannter Erfolg einstellt, zweifelt keiner am Verstand des Protagonisten – man hält ihn eher für genial. Bleibt allerdings die Aufmerksamkeit aus Mangel an anerkennenswerten Ergebnissen ausschließlich auf dem verrückten Treiben, so wird schnell nicht nur das Tun infrage gestellt sondern gleich auch die handelnde Person dazu. Da hilft dann auch Einsteins These wenig, nach der die reinste Form des Wahnsinns darin besteht, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich was ändert. So ist es doch ein schmaler Grat zwischen Anerkennung und Missachtung, wenn man es wagt, mal was wirklich Neues zu machen, und außen vor zu lassen und frei von alten Wahrheiten einfach ausprobiert, was richtig läuft - den Mut zu haben, bekannte Wege zu verlassen und neue zu erkunden, auf denen noch keine Geländer und Wegweiser den Weg weisen und man das Ziel nicht kennt, sondern nur es nur erdenken und ersehen kann.
Ist man Visionär oder einfach nur verrückt, wenn man sich die Zukunft all zu konkret ausmalt mit ganz anderen, heute noch unvorstellbaren Möglichkeiten – mit schlicht einer ganz anderen Art, die Dinge zu tun? Ein gutes Beispiel liefern aus meiner Sicht Science Fiction - Autoren. Würden sie sich nicht der Freiheit der Fiktion bedienen und wir ihnen diese zugestehen, würde man sie wahrscheinlich für verrückt erklären. Da hat sich beispielsweise der Autor einer der international erfolgreichsten Science Fiction - Serien aller Zeiten in den 70ern gedacht, man könne doch mit einem "Communicator" genannten kleinen Gerät, das in die Hosentasche passt, mündlich kommunizieren, sobald man die darauf montierte kleine Klappe öffnet. Hätte man sich allen ernstes in der damaligen Zeit vorgenommen, so ein Ding zu bauen, wäre man mindestens milde belächelt worden, ganz sicher hätte man aber keinen Investor gefunden. Und hätte man an der Idee trotzdem all zu vehement festgehalten, wäre man ... eben: für verrückt erklärt worden. Nur reichlich 20 Jahre später hat die Firma Motorola ein solches Handy (hätten Sie früher mal nur schon diesen Begriff verwendet ... ein was bitte?) auf den Markt gebracht, nur nicht mit klobigen Drehknöpfen wie an dem Gerät, das die Mannschaft des Raumschiffs Enterprise benutzt hat, sondern mit stylischen hinterleuchteten Tasten. Man muss also in der Geschichte nicht erst zurückgehen auf Galileo Galilei, der einfach zu früh erkannt und damit zurecht behauptet hat, dass die Welt keine Scheibe ist und sich damit mächtig Ärger eingehandelt hat und für ihn gefährlicher Weise mit denen, die damals für sich in Anspruch genommen haben genau zu wissen, was und ist - oder was eben damals als oder galt.
Heute besuchen wir einen Ort, an dem all diejenigen gelandet sind, deren Gedankenwelt und deren sich daraus ergebendes Verhalten zu sehr abwich von dem, was in jener Zeit aus der Summe von und als Normal galt. Da hat es vielleicht schon gereicht, wenn einer zum Beispiel regelmäßig Insekten aß und das eben nicht nur heimlich für sich und auch ansonsten etwas verschroben daherkam. Vielleicht wollte dieser Mensch einfach nur niemandem sagen, dass er lange Zeit in den Teilen Asiens gelebt hat, wo dies ein Snack ist, den man sich dort auf der Straße „to go“ holt, wie wir eine Bratwurst. Was ist also richtiges, was falsches, was wirklich normales Essen?
Von derlei Gedanken erfüllt fahren wir in die kleine beschauliche Grenzstadt an deren Rand diese verlassene Irren-Anstalt liegt. Ein weit verzweigter Gebäudekomplex mit zum Teil aufwändig verzierten Gründerzeit-Fassaden. Erst bei näherem Hinsehen fällt uns auf, dass die sonst obligatorischen Gitterstäbe ersetzt sind durch massiveiserne Fensterrahmen bzw. -sprossen, die man allerdings erst auf den intensiven zweiten Blick so erkennt. Ob diese bauliche Raffinesse nun dem Wohlbefinden der Insassen dienen sollte oder die Gebäude besser ins Stadtbild passen lassen sollten? Das wird vielleicht keiner mehr sagen können. Lange Gänge mit auffällig hoch liegenden Fenstern – auch diesen Zweck erkannt – durchziehen die Gebäude. Die Zimmer sind großzügig geschnitten – einige verfügen sogar über einen hübschen Erker. Die hier sicher ausnahmslos unfreiwillig untergebrachten haben es zumindest räumlich nicht so schlecht erwischt, wovon auch ein bemerkenswert großer Saal mit Bühne zeugt. Hier gab es bestimmt regelmäßig ein Wahnsinns Programm. :-)
Nachdem wir diese ehemalige zwangsweise Heimstätte derer, die zu sehr aus unserem gesellschaftlichen Normbild fielen, ausgiebig durchstreift und fotografiert haben, beschlossen wir den Rückzug. Dabei denken wir noch einmal an die vielen, die hier vielleicht zu Unrecht hergeraten sind und ihnen hier keiner mehr zuhörte und wenn, ihnen kein Wort mehr für bare Münze genommen wurde, sprach doch da ein Verrückter nur wirres Zeug, auch wenn es sich scheinbar doch plausibel und normal anhörte.
Hoffentlich erklärt uns mal niemand für Verrückt, dass wir immer und immer wieder solche verlassenen, vom Verfall gezeichneten Orte besuchen, nur um sie zu fotografieren. Schon ganz schön irre, oder?