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Aufgegebenes Verwaltungsgebäude in Chemnitz
Für den einen ist es ein Baumarkt, für die anderen eine architekturgeschichtliche Revolution. Recht haben beide.
Heute besuchen wir ein Gebäude, das dem Slogan unserer Heimatstadt aus unserer Sicht würdig Zeugnis ablegt. Dem entgegen fristet es ein unwürdiges Dasein. Es steht kaum beachtet in einer lückenhaft bebauten schmucklosen Nebenstraße. Nur wenige kommen hier vorbei. Wenn man nicht direkt hier wohnt oder mit den Gewerbebetrieben zu tun hat, die hier domizilieren, verirrt man sich, abgesehen noch vom gelegentlichen Durchgangsverkehr, kaum in diese Straße. Wir steuern sie heute gezielt an!
Der Motor unseres Wagens hat kaum Betriebstemperatur erreicht, als wir schon direkt vor unserem heutigen Fotomotiv vorfahren. Eine leicht und damit sehr ästhetisch nach außen geschwungene Fassade. Weit gefasst abgerundete Kanten. Die Etagen äußerlich angedeutet mit horizontalen Absätzen in klarer Linie. Den Architekten dieses 1923 entstandenen Verwaltungsgebäudes muss zweifelsohne das Stilbild des Bauhaus die Feder auf dem Reißbrett geführt haben. Für uns etwas unverständlich, dass die Stadtoberen, die schon ausweislich ihres selbst gewählten Namenszusatzes die Stadt der Moderne sein wollen, eines der ohnehin nicht vielen entsprechenden baulichen Zeugnisse so dem Verfall überlässt. Doch wer weiß, welche Sach- und anderen Zwänge baulichen Erhaltungsmaßnahmen entgegenstehen. Für uns umso mehr Grund, dieses schöne Gebäude mit seinen stilistischen Elementen mit der Kamera einzufangen.
Am sichtlich seit vielen Jahren schon kein einziges Mal mehr geöffneten Haupteingang vorbei, lädt eine angelehnte kleine Seitentür zum Eintritt ein. Über ein schon recht stiltypisches kleines Treppenhaus erreichen wir die erste Etage und stoßen unmittelbar auf das große Haupt-Treppenhaus in ebenso wohlgeformter Symmetrie, die durch die großzügig dimensionierten Fensterfronten eindrücklich zur Geltung kommt. Die zweckbedingten, auf das architektonische Gesamtkunstwerk eher weniger Rücksicht nehmenden Um- und Ausbauten späterer Jahre, die besonders in den Etagenfluchten in Form von nachträglich eingezogenen Wänden zur Schaffung von weiteren Büroräumen vorgenommen wurden, beeinträchtigen den typischen Charakter der 'Neuen Sachlichkeit' leider etwas. Zu erkennen ist die konsequente Formensprache aber immer noch gut. Wir sind hoch erfreut und denken uns, dass es allerhöchste Zeit wurde, auch dieses schöne Gebäude zu fotografieren, bevor es weiter verfällt.
So kurz wie das 1919 gegründete Dessauer Bauhaus ob der Machtergreifung der Nazis 1933 nur existieren durfte, so nachhaltig stilprägend war das Wirken seiner Protagonisten. In der Architektur wie auch in anderen Disziplinen der Formgestaltung wurden die damals vorherrschenden ästhetischen Normen aufgebrochen.
Bei weitem nicht nur und schon gar nicht zuerst aber eben auch deswegen könnte ich die braunen Horden, die sich Deutschland damals bemächtigt haben, verfluchen.
Wenn man heute an den Meisterhäusern von Walter Gropius in Dessau vorbeigeht und mal außer Acht lässt, wann diese Häuser errichtet wurden, wären sie wohl kaum einer Erwähnung wert, sieht man doch inzwischen allerorten moderne Architektur dieser Prägung. Ganz anders war das eben in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Da waren diese Häuser dermaßen ihrer Zeit voraus, dass sie viel Aufsehen erregt und auch für Kontroversen gesorgt haben. Nicht jeder war dieser Avantgarde gegenüber aufgeschlossen. So wurde dieser Baustil unter anderem als "utopisch" kritisiert. Aber so ist es wohl immer und so auch heute noch, dass Dinge, die ihrer Zeit voraus sind, es zu Beginn schwer haben, Akzeptanz zu finden und sich durchzusetzen. Man nehme nur mal die Computertechnik als Beispiel: 1978 konnte sich die Laserdisc (so groß wie eine Schallplatte) nicht durchsetzen, die spätere CD und DVD sehr wohl. Der Net-PC aus den 90er Jahren war ebenso zunächst ein Flop; heute werden so genannte Netbooks millionenfach verkauft. Es ist wohl so, dass Dinge, die ihrer Zeit voraus sind, für ihren Erfolg warten müssen, bis ihre Zeit gekommen ist. Dass die Zeit für die visionären Ideen von Walter Gropius, Henry van der Felde und den vielen weiteren Architekten und Formgestaltern (früherer Ausdruck für "Designer") gekommen ist, kann man heute in fast jedem Stadtbild sehen.
Möge dieses schöne Gebäude, das aus unserer Sicht ohne Zweifel der 'Neuen Sachlichkeit' zugeordnet werden darf, der Nachwelt erhalten bleiben. Es würde uns freuen.