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Stillgelegter Fabrikkomplex im Großraum Chemnitz
Von Chemnitz ist es nicht weit in die kleine Stadt, in der sich diese riesige, seit vielen Jahren stillgelegte Fabrik befindet. Als ich in die ruhige nur lückenhaft bebaute Straße einbiege, entlang derer sich dieser ausladende Gebäudekomplex befindet, sollte sich trotz des schon auf den ersten Blick mächtigen Eindrucks das ganze Ausmaß des Areals erst später erschließen. Nach dem Abstellen des Wagens in einem sichtlich zu großen Angebot an Parkplätzen früherer Werksangehöriger gehe ich zunächst den Straßenzug ab. Erst mal einen Überblick verschaffen. Immer wieder muss ich vom Gehsteig auf die Fahrbahn ausweichen, so sehr ragen die wuchernden Büsche und Sträucher durch den rostzerfressenen, aber gleichwohl noch gut erkennbar kunstvoll geschmiedeten Eisenzaun auf den Gehweg. Immer wieder bläst der Wind eine feucht-modrige Briese auf die Straße, die die meisten Passanten wohl eher endgültig veranlassen würde, den Gehsteig zu wechseln. Für mich ist es eine olfaktorische Einladung. Ich nehme Sie an und folge meiner aufgenommenen Witterung. Von der Straße zweigt eine merkwürdige kleine Einfahrt ab. Zinnenbehauptete Türmchen aus Holz wie aus einem von eher unterdurchschnittlich begabter Hand gezeichneten Kinderbuch. Deren Sinn und Herkunft mich aber in diesem Moment deutlich weniger interessierend, nutze ich den sich bietenden Sichtschutz für einen weiter ausgeholten Beinschwung über eine niedrige und schon sehr zerfallene Zaunpassage. Mein weiterer Weg ist barrierefrei. Ich gehe durch ein zu etwa 1/5 offen stehendes Tor an der ehemaligen Laderampe. Und da ist er wieder, dieser besondere Schritt. Das eine Bein ist noch mitten im wohlgeordneten urbanen Raum einer sittsamen Kleinstadt, das andere betritt fast eine andere verborgene Welt. Allgegenwärtige Morbidität, Niedergang und eine scheinbar zum Stillstand gekommene Zeit. Alles ist anders als gewöhnlich. Mich erfasst die sehr präsente Ruhe. Herrlich! Zweifels ohne: ich bin mal wieder an meinem Ziel. Ich durchschreite die riesigen Werkshallen dieser einstigen Färberei. Gähnende, hohl wirkende Leere. Die wenigen hereinbrechenden Sonnenstrahlen, die von den verwitterten milchig-blinden Oberlichter noch durchgelassen werden, treffen aschfahl auf den geborstenen Fliesenboden. Sie hängen wie ein Schleier von der unter ihrer eigenen Last ächzenden Decke. Lange dunkle Gänge verbinden die einzelnen Gebäude miteinander. Immer wieder Artefakte aus der Zeit, als hier noch gearbeitet wurde. Es sind Gegenstände wie Werkzeuge und Maschinenteile, deren Funktion ich zumindest überhaupt nicht erkennen kann. Einem frisch ausgelernten Färber, der nur die modernen Produktionsmittel kennt, wird es möglicherweise ähnlich gehen. Mit derartigen Deutungsschwierigkeiten beschlagen, ist es ein wenig wie postindustriele Archäologie nur ohne Pinselchen und weiße Handschuhe. Ich gehe immer weiter. Immer wieder dunkle Gänge, die zu weiteren Hallen mit immer wieder anderem Lichtspiel führen. Am Ende des Fabrikkomplexes, wieder ins Freie tretend, treffe ich auf eine, sich deutlich vom Charakter des übrigen Gebäudeensembles unterscheidende herrschaftliche Villa. Schnell wird klar: hier wohnte einmal der Patriarch, der Herr über das alles hier. Der heute nicht nur opportun erscheinende, sondern zunehmend regelrecht erwartete Schein der Bescheidenheit war damals offensichtlich nicht die Sache selbstbewusster und erfolgreicher Fabrikanten. Man zeigte was man hat und was man ist. Zum damaligen Selbstverständnis gehörte auch, dass man unmittelbar auf dem Fabrikgelände wohnte. Was würde beispielsweise wohl der heutige Vorstandsvorsitzende von BMW sagen, müsste er in einer Villa mitten auf dem Produktions-Gelände des Autoherstellers wohnen. Eine heute fast groteske Vorstellung. Nach einem ebenso zwangsweise unangekündigten Besuch in der ehemaligen Wohnstätte des früheren Besitzers mache ich mich auf den Rückweg. Und noch einmal dieser besondere Schritt. Diesmal umgekehrt: von der Vergangenheit in die lebendige Gegenwart. Bis zum nächsten Schritt - Schritt für Schritt.