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Verlassene Heilstätte im Ost-Harz
Heute führt uns unser Weg in eine Gegend, die ruhiger und beschaulicher kaum sein kann. Andere würden vielleicht auch "gottverlassen" sagen. Es geht in den östlichen Teil des Harz. Nirgends ist das Verhältnis Ruine zu noch bewohntem bzw. genutztem Gebäude größer als hier. Eine Fotosafari ganz nach unserer Art. Als erstes Ziel haben wir eine seit vielen Jahren verlassene Lungenheilstätte ins Visier genommen. Wir fahren zunächst nach Wernigerode. Einer der schönsten, wenn auch ebenso verschlafenen, mittelalterlichen Kleinstädte Deutschlands. Enge Gassen, die von liebevoll erhaltenen Fachwerkhäusern dicht gesäumt sind, die mit allem zu tun haben, aber nicht mehr mit architektonisch akkuratem Vermaß. Kleine plüschige Cafés und urige Gasthäuser laden zum Verweilen ein. Ein bisschen Zuckerguss-Atmosphäre, die Anleihen an die lauschig-gemütliche Weihnachtszeit vergibt. Doch wir haben "unsere Mission" und dieser folgend beziehen wir hier nur kurz Quartier im Hotel und brechen auf. Der Weg führt uns über schmale, durch riesige Nadelwälder schneisende Landstraßen. Vor uns – hinter uns – kein Mensch. Vielleicht nicht gleich von Gott, aber ansonsten wirklich eine sehr verlassene Gegend. Wir kommen in die kleine Stadt, an deren Rand sich unser erstes Fotoobjekt befinden soll. Wir parken den Wagen, nicht weil wir angekommen sind, sondern weil die inzwischen zu einem Feldweg degenerierte Straße mit unserem, eine gewisse Mindesturbanität voraussetzendem Fahrzeug nicht mehr zu befahren ist. Beim nächsten Autokauf wird der Aspekt der Bodenfreiheit und Geländegängigkeit wesentlich stärker berücksichtigt, beschließe ich. Es geht bergauf. Inzwischen einen schmalen Waldweg entlang. Das gerade noch so ein GPS-Signal empfangende Smartphone (was für ein schon so selbstverständlich gewordenes Wunderwerk der Technik) nimmt uns die aufkommenden Zweifel, hier auf dem richtigen Weg zu sein. Also gehen wir mit inzwischen erhöhter Atemfrequenz weiter. Plötzlich tun sich vor uns schemenhaft Umrisse von Gebäuden auf. Noch ein paar Schritte – wir sind richtig und angekommen. Wir stehen vor dem schon halb verrotteten Schlagbaum der Zufahrt. Prima, denken wir uns. Barrierefrei und sicher vor neugierigen Blicken argwöhnischer Leute. Gerade wollen wir uns mit einem leichten Schwung unter dem Schlagbaum hindurchschwingen, hören wir das Geräusch, das wir am meisten fürchten: lautes Hundegebell! Die sich inzwischen schon wieder leicht normalisierte Atemfrequenz steigt auf ein Maximum. Das Blut bekommt einen heftigen Adrenalinstoß. Wir bleiben in einem Anfall von Schockstarre stehen, nicht wissend, aus welcher Richtung die blutrünstigen Vierbeiner gleich über uns herfallen. Doch statt dass an uns Wachhunde das ausüben, was ihnen aufgabenentsprechend antrainiert wurde, kommt ein junger Mann auf uns zu. Ihm sichtlich gehorchend folgend die zwei immer noch drohend kläffenden und sich sichtlich nur mit Mühe zurückhaltenden Hunde. Sehend, dass die Situation wohl unter Kontrolle ist, presse ich mir ein mühelich freundliches "guten Tag" ab. Es wird erwidert. Auf die erwartete Frage, was wir hier suchen, antworte ich direkt: "Fotomotive". Nach einer kurzen Erklärung und Versicherung, dass wir nichts unredliches im Sinn haben, lässt uns der inzwischen ebenfalls freundliche junge Mann gewähren mit dem Hinweis, dass wir aber äußerste Vorsicht walten lassen sollen, da die Gebäude und alles daran und darin sehr morsch und damit gefährlich sei. Ihm dies möglichst glaubhaft versichernd gehen wir auf das Gelände an den beiden wachhabenden Vierbeinern vorbei, nicht wissen wollend, was in deren Köpfen vor sich geht. Über ein weitläufiges Areal erstrecken sich verschiedene Gebäude dieser ehemaligen Klinik-Anlage. Wir betreten zuerst das offensichtliche Haupthaus und sehen uns um. Riesige Flure führen zu ebenso außergewöhnlich großen Zimmern. Und da: der ehemalige OP-Saal - zu einem Schimmel und Moos-Biotop verwandelt. Die Mühe und Risiken haben sich mal wieder gelohnt, sage ich zu mir. Wir streifen noch eine Weile über das weitläufige Gelände. Viele Gebäude sind schon so verfallen, dass sie kein Fotomotiv mehr her- oder vielmehr freigeben. Was für eine Gewalt die Natur doch hat, wenn man ihr etwas Zeit gibt. Um die Geduld des jungen Mannes nicht überzustrapazieren, machen wir uns wieder auf in Richtung Zufahrt. Hoffentlich sind die Hunde nicht alleine, denken wir uns. Aber es ist alles gut. Der junge Mann fragt uns offensichtlich nicht nur die Höflichkeit bedienend, ob wir gute Fotos machen konnten. Wir bejahten die Frage dankend für den gewährten Zugang und gehen den Waldweg zurück zu unserem Wagen. Für heute genug der Abenteuer. Wir sehnen uns nach einer schönen Tasse Kaffee in einem der kleinen Cafés, die aussehen wie Omas Wohnzimmer. So fahren wir direkt zurück nach Wernigerode. Das eben erlebte nochmal Revue passieren lassen, lässt uns das Schälschen Heeßen (sächsisch für eine Tasse Kaffee), das da dampfend vor uns steht, besonders genießen.